Wabi-sabi. Foto von Helmut Rüger.

Grundprinzip oder Verwirrungsstifter?

EINSAMKEIT UND ALTER
2 Begriffe, die uns normalerweise nicht wie die Grundpfeiler einer ästhetischen Ausrichtung erscheinen, da sie für uns schlicht negativ besetzt sind. Und dennoch baut eins der faszinierendsten ästhetischen Modelle auf diesen beiden Begriffen auf. Wie bei fast allen japanischen Begriffen, die uns bei und um Bonsai herum begegnen, lässt eine klitzekleine Änderung in der Übersetzung die Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Lassen Sie uns den Artikel noch einmal von vorne beginnen:

FÜR SICH STEHENDE REIFE
Klingt anders, oder? So ein wenig, wie man sich seinen Bonsai vorstellt, wenn er da steht und man die Muße hat, ihn zu betrachten. Ruhe verbreitend, natürlich, mit einer Anmutung, die nichts Kompliziertes an sich hat. Schon hat man drei der Pfeiler von Wabi-sabi genannt – und gefühlt: Ruhe, Einfachheit, Natürlichkeit. Ist also ganz einfach. Aber wie kommt man dahin, wie entlockt man einem Baum, einer Teeschale, einer Zeichnung diese Assoziationen? Warum wirkt manches steril und manches verbreitet die Ruhe und Gelassenheit von jahrzehntelanger Erfahrung? Werfen wir einen kurzen Blick auf die beiden Grundprinzipien.

WABI
Die weithin verbreitete Übersetzung von „Wabi“ ist „Einsamkeit“ oder „sich verloren fühlen“. Eigentlich also ein durch und durch romantischer Begriff, der in der Bonsaikunst seinen Ausdruck in der Form des Literaten findet. Die Genugtuung, die diese Gemütslage in sich birgt, liegt in der Erkenntnis, dass Einsamkeit auch stark sein kann. Für sich allein stehend, hebt man sich aus der Masse empor und ist nicht mehr den allgemeinen Benimmregeln oder gesellschaftlichen oder künstlerischen Erwartungen verpflichtet. Wenn dies nicht dem Selbstzweck dient, herauszuragen, sondern der Erkundung von neuen Denk- und Handlungsmustern, können tiefgründige Erfahrungen neue Interpretationen der Welt zulassen. Eventuell erhält man in seinem Tun und Denken eine beruhigende Ahnung der Unerschöpflichkeit der Assoziationen und ist dann wieder in der Lage, diese Ahnung in die Schaffung von Gegenständen und Situationen einfließen zu lassen und sie so mit einem ebenso handfesten wie mystischen Zauber zu umgeben.

SABI
Hier ist die gebräuchliche Übersetzung „alt sein“. Aber auch hier ist nicht das gebrechliche Alter gemeint, das quälend höhnisch die Jugend und ihre Kraft auslacht, sondern die Reife, die sich auf die vielen Erfahrungen der Jugend stützt und diese harmonisch zur Anwendung bringt. (Wobei auch alte japanische Menschen über laute Jugendliche ebenso lauthals zetern ...) Diese Reife besteht zum einen aus einer strengen Erhabenheit, die unnötige Einflüsse ausfiltert und so Lasten von einem Kunstwerk nimmt, die vom Kern ablenken. Dieser Kern besteht zu großen Teilen aus einer die Gefühle ansprechenden Komponente, die nicht schreiend nach außen drängt. Das andere Element dieses speziellen Reifebegriffes ist die Asymmetrie, hergeleitet aus praktischen Erfahrungen und einer (durchaus selektiven) Naturbeobachtung. Die perfekte Symmetrie kommt nicht in der Natur vor und ist für den Menschen auch gar nicht praktisch. Eine ganz runde Teeschale z.B. lässt sich nicht so gut festhalten wie eine leicht in ihren Achsen verschobene, die sich besser der Form der gebogenen menschlichen Hand anpasst. Ein ganz symmetrisches Gesicht wirkt nicht mehr anregend, ein ganz symmetrischer Baum macht vielleicht ob seiner ungewöhnlichen Form kurz neugierig, verliert aber schnell seine Faszination.

WABI-SABI
Einfachheit. Die Konzentration auf das Wesentliche, das Loswerden von Ballast. Die ästhetische Anmutung soll eine ästhetische Erfahrung sein.
Ruhe. Ein Gefühl der Erfrischung, gespeist nicht aus Aufregung und Adrenalin, sondern aus Trost und Stille.
Natürlichkeit. Das Ergebnis soll aussehen und wirken, als sei es eine glückliche Aneinanderreihung von natürlichen Zufällen, die mehr oder minder ohne Absicht genau dieses Ergebnis hervorbrachten.
Diese drei Leitbegriffe und ihre Ausfüllung deuten an, dass Wabi-sabi weder etwas ist, das man sich in kurzer Zeit aneignet oder das es gar vom Zufall geleitet ist. Vielmehr ist es in seinen Ausprägungen eine höchst artifizielle Interpretation von Natur, Geist und Technik, deren Ziel nicht nur in der perfekten Präsentation liegt, sondern auch in der Vervollkommnung des Handelnden. Aber einfach nicht entmutigen lassen, auch die japanischen Meister fallen nicht vom Himmel (und wenn doch, schmerzt es bei ihnen genauso wie bei uns).

Dieser Artikel erschien in der {ln:BONSAI ART 103 'BONSAI ART 103}